Liebe Freunde,

das Jahr geht zu Ende und ich möchte die Gelegenheit nutzen, zurückzuschauen und ein paar meiner Gedanken zu teilen.

Ich beobachte, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schwindet. Immer häufiger scheint uns das zu fehlen, was uns zusammenhält. Unsere gemeinsamen Werte, eine gemeinsame Basis. Dabei ist es so einfach – wir kennen diese gemeinsamen Werte aus unserem Grundgesetz. Unsere Verfassung ist unsere gemeinsame Basis, nach der wir leben wollen; die demokratisch-freiheitliche Grundordnung und die Strukturen, die diese beschützen. Unsere Gesellschaft ist also eine demokratische und eine freiheitliche. Damit verbunden ist, die Menschenwürde zu achten, dem Demokratieprinzip und der Rechtsstaatlichkeit zu folgen.

Und wo stehen wir da am Ende des Jahres 2018?
Die Menschenwürde zu achten und zu schützen sollte für uns stets das höchste Gut sein. Ohne seine Würde kann der Mensch nicht Mensch sein. Wenn ein Mensch sogar schon um seine Würde kämpfen muss, dann fehlen ihm die Ressourcen, um ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. Er ist nicht mehr selbstbestimmt. Diese Selbstbestimmtheit ist aber gleichzeitig die Voraussetzung für Individualität und Persönlichkeit.

Wie sah es aus mit der Menschenwürde in Deutschland, wie mit den Möglichkeiten, aus sich das zu machen, was man 2018 wollte?
Noch immer wird das ALG2 an Auflagen geknüpft, und es wird eine Versorgung sanktioniert, die gerade zum Leben reicht. Selbst wenn diese Grundversorgung sichergestellt wäre, würde dies auch nicht ausreichen, uns frei entwickeln zu können. Dafür wären freier Zugang zu Information, zu Wissen und Bildung nötig. Hier sind wir – um es nett zu sagen – in 2018 keinen Meter vorangekommen. Wenn wir so weitermachen, dann werden wir den Anforderungen des digitalen Wandels nicht gerecht. So haben wir zum Beispiel nicht die Möglichkeit, uns durch flexible Weiterbildung auf Veränderungen vorzubereiten. Hier ist noch einiges an Reformen nötig, sei es in Bezug auf unser Bildungssystem oder auch in Bezug auf Medienkompetenz. Vieles blieb im letzten Jahr liegen, das man hätte angehen müssen.

Wie steht es um unsere für die Demokratie wichtigen politischen Institutionen?
Schauen wir die Parteien im Bundestag an. Vielfach beklagten die Menschen den Einzug der AfD in die Parlamente. In der Tat ist es unrühmlich, dass dort jetzt eine Partei mit einer solchen Nähe zu rechtstotalitären Gesellschaftsvorstellungen sitzt. Mindestens ebenso bedauerlich ist aber der Zustand der Parteien, die die Gesetze für dieses Land verabschieden sollen. Sie stellen die Mehrheit, und ihre Aufgabe ist es auch, ein Gegengewicht zu dieser Partei zu sein, aber wir sehen bei kaum einer der Parteien Stabilität. Es gab bei so gut wie allen Vorstandswechseln laute und heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen und Identitätskrisen.

Wie steht es um den Schutz unserer Freiheitsrechte als Bürger? Wie ist die Balance zwischen Freiheit und staatlicher Autorität?
In vielen Bundesländern wurden Verfassungsänderungen beschlossen und Polizeigesetze geändert mit dem Ziel einer Ausweitung der Macht und der Befugnisse von Bund und Ländern. Der langjährige Traum der Innenminister wurde Wirklichkeit: Die Landesregierungen erweiterten die Einsatzmöglichkeiten umfangreicher Abhörmaßnahmen, ermöglichten DNA-Analysen für erkennungsdienstliche Maßnahmen bei geringstem Verdacht sowie Präventivhaft von drei Monaten und hoben die vorherige Gleichbehandlung von Bürgern und Polizisten wieder auf. Aus gutem Grund bestimmten unsere Vorväter, dass es keine ausgeprägte Machthierarchie zwischen Polizei als ausführendem Arm des Staates und seinen Bürgern geben soll, dass beispielsweise Polizisten genauso zu behandeln seien wie „normale“ Bürger. Nun gelten Polizisten als schützenswerter. Bürger und Staat begegnen sich nun nicht mehr auf Augenhöhe. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die zunehmende Militarisierung der Polizei. Immer mehr Polizeipanzer wurden angeschafft, über eine Ausstattung mit Handgranaten wurde nachgedacht, auch vor dem Errichten einer Zensurinfrastruktur wird nicht mehr halt gemacht. Die regierenden Parteien treten auf Europaebene dafür ein, dass in Zukunft Filter Einfluss darauf nehmen, wie wir Daten verteilen. In Deutschland wurde das Netzwerkdurchsetzungsgesetz bereits auf nationaler Ebene vorangetrieben.

Und die Gerichte?
Glücklicherweise erweist sich regelmäßig das Verfassungsgericht als letzte Bastion. Gleichzeitig stelle ich aber auch fest, dass viele Gerichte aufgrund der Menge der Verfahren schlichtweg überlastet zu sein scheinen. Und die wichtige Diskussion, wie wir mit Personen umgehen wollen, für die unser Mechanismus zur Bestrafung schlichtweg nicht funktioniert, hat noch keiner angestoßen.

Was ich beschrieben habe, sind alles Veränderungen unserer demokratischen Rahmenbedingungen, am System – wie sich das institutionelle Umfeld verändert hat, wie sich unsere Rechtslandschaft verändert hat. Eine solche Veränderung hat immer auch Auswirkungen auf uns Menschen.
Und deswegen verwundert es mich nicht, dass wir es mehr und mehr an Respekt im Umgang miteinander vermissen lassen. Dass wir häufiger in Konfrontation gehen, anstatt vor einer Antwort die Argumente des anderen anzuhören und zu hinterfragen.

Aber wir haben uns auch viel vorgenommen. Mit „demokratisch-freiheitlich“ legen wir uns auf das juristisch wie emotional schwierigste Modell fest. Denn freiheitlich bedeutet, andere Lebensentwürfe und Meinungen zuzulassen und auszuhalten. Dass wir Minderheiten schützen und nicht in einem Willen der Gleichmacherei zum Verstummen bringen. Dass wir Vielfalt erlauben. Im Grunde genommen auch, dass wir sie als wertvollen Beitrag zum Diskurs anerkennen. Demokratisch drückt gleichzeitig die Ablehnung totalitärer Bestrebungen aus. Es verstärkt das „freiheitlich“ dahingehend, dass wir auch die Möglichkeit zum Ausdruck der Verschiedenheit zulassen.

Als Gesellschaft können wir dem also nur gerecht werden, wenn wir Meinungen aushalten auch wenn wir das nicht möchten. Das führt natürlich zu Reibungen, man wird quasi aus der emotionalen Komfortzone geschoben. Wird dem ein Riegel vorgeschoben, der möglicherweise aus der Norm fallende Meinungen unterbinden würde, scheint das Leben einfacher. Aber das wäre es eben nur für einen Teil unserer Gesellschaft. Der andere Teil würde letzten Endes ein Leben in Unterdrückung leben. Etwas, das man für sich selbst ablehnen würde, wogegen man kämpfen würde und müsste.

Damit ist also unsere wichtigste „Kampflinie“ nicht entlang politischer Meinungen – also eher links oder rechts, befürworte ich eine konservative Weltanschauung oder eine progressive, übergewichte ich Bedarfsgerechtigkeit oder eher Leistungsgerechtigkeit. Nein – dieses Diskutieren und Verhandeln von Argumenten und Positionen gehört zu einer freiheitlichen Demokratie. Dieser Demokratie, die uns vereint in den Werten unseres Grundgesetzes, in Achtung der unantastbaren Würde jedes Menschen und seiner Freiheitsrechte.
Dass wir diese Freiheit schützen ist zwingend notwendig, noch bevor wir über Positionen verhandeln, die sich auf beispielsweise Gerechtigkeitsfragen beziehen. Denn letzten Endes müssen wir erreichen, dass eine erarbeitete Lösung und ein gefundener Kompromiss von der gesamten Gesellschaft getragen wird. Und das passiert nur, wenn alle das Gefühl haben, ihr Wort und ihre Argumente in die Diskussion einbringen zu können.

Unsere wichtigste Kampflinie verläuft zunächst entlang der Frage, welches Ausmaß an Autorität oder totalitärem Verhalten wir zulassen. Wieviel Freiheit erlauben wir, die Lebensentwürfe zu leben, die es in der Gesellschaft gibt. Wieviel Freiheit erlauben wir, um unsere Meinungen und Kreativität zum Ausdruck zu bringen. Das Risiko am beispielsweise rechten Rand liegt nicht in einer abweichenden Ansicht zur Verteilung von Wohlstand oder Aufenthaltsrechten. Es liegt in (ultra-)autoritären/totalitären Tendenzen. Im Gleichmachen, im Verbieten und Unterdrücken von Lebensentwürfen und Meinungen, die nicht den eigenen entsprechen. Dem Ausschließen von dem, was uns als Gesellschaft verbindet, was uns zum Teil der Gesellschaft macht: Der Möglichkeit sich einzubringen.
Wir müssen also dafür kämpfen, dass diese Freiheit uns allen bestehen bleibt. Und zwar sowohl gegenüber unserem Staat als auch im menschlichen Miteinander, als Mitglieder der Gesellschaft.

In diesem Sinne möchte ich allen danken, die sich im letzten Jahr dafür eingesetzt haben und für diese Freiheit gekämpft haben. Die ihre Zeit dafür gegeben haben, die ihre finanzielle Unterstützung beigetragen haben, damit wir uns die Errungenschaften beziehungsweise die Lehren des letzten Jahrhunderts erhalten. Vielen Dank für Euren Einsatz. Vielen Dank von Herzen für Euer Engagement.

Euer Sebastian Alscher
Bundesvorsitzender der PIRATENPARTEI Deutschland