Es begann im Januar 2020. Berichte über ein neuartiges Virus aus China wurden laut. China riegelte die Wuhan-Region ab, Menschen mussten in ihren Wohnungen bleiben. Kurze Zeit später kamen ähnliche Nachrichten aus unserem Nachbarland Italien: Zunächst wurden einige Kommunen in der Lombardei unter Quarantäne gesetzt, dann die ganze Region, später das ganze Land. Wir sahen Bilder aus der Mitte Europas, die die meisten von uns noch nie gesehen hatten: Militär und Polizei riegeln Straßen ab, unbedarfte Menschen dürfen ihren Wohnort nicht mehr verlassen.
Deutschland wurde bald bewusst, dass dieses Virus auch zu uns kommen wird. Zwar wollte man die Ski-Saison nicht verderben, doch auch Deutschland bereitete sich vor. Pandemie-Pläne, die zum Glück in weiser Voraussicht geschrieben worden waren (auch wenn ihre Empfehlungen zur Vorbereitung zu wenig Beachtung fanden) wurden aus den Schubladen gezogen. Krankenhauspersonal rief uns in den sozialen Medien zu: “Wir bleiben für euch hier, bleibt ihr für uns zu Hause.” Ein gesellschaftliches Wir-Gefühl, gleichzeitig gespeist aus Erregung im Angesicht des Neuen, sowie Kampfeswillen vor der Herausforderung, rollte durch die Gesellschaft. Kurze Zeit später griffen auch in Deutschland Eindämmungsmaßnahmen, das öffentliche Leben wurde heruntergefahren, man blieb zu Hause.
Wir meisterten die erste Welle im Frühjar 2020, und konnten im Sommer des selben Jahres bei niedriger Inzidenzrate und warmen Temperaturen viele Eindämmungsmaßnahmen wieder absetzen. Hatten wir doch gelernt, dass wir das Virus unter Kontrolle bringen konnten.
Bis zum Herbst. Temperaturen runter, das Leben verlagerte sich in Innenräume, soziale Kontakte waren über den Sommer wieder gestiegen, die Inzidenz schoss nach oben – und wir weigerten uns, Maßnahmen ähnlich zum Frühjahr zu beschließen. Stattdessen verliefen wir uns in Diskussionen, ob nun diese oder jene Zahl die bessere ist, um die Pandemie zu vermessen – während wir hinsichtlich der Todesfallzahlen ‘durch oder mit’ Corona zu den im Frühjahr schwerer betroffenen Ländern aufschlossen.
Wo war das Wir-Gefühl? Wo war die Bereitschaft, sich und seine Nachbarn zu schützen? Warum hatte das Virus, während es gerade jetzt in Deutschland Opfer verlangte, im Herbst für die Menschen scheinbar den Schrecken verloren?
Wie sich die Wahrnehmung und Meinungen zur Krise verändert haben, werden wahrscheinlich soziologische und gesellschaftspsychologische Auswertungen der Zukunft besser zeigen. Währenddessen aber muss das politische Deutschland lernen, wie es in der Krise besser funktionieren kann, und dabei die Gesellschaft mitnehmen.
Worüber wir reden müssen
Hier sind dabei einige Thesen, die einer tiefergehenden Debatte würdig sind:
- Das Wir-Gefühl, gespeist von schauriger Erregung im Angesicht eines externen Feindes, wird alsbald unter Druck gesetzt von dem Wunsch, seinem bisherigen Lebensstil wieder nachzugehen. Angst vor dem bedrohlichen Neuen verschwindet bald im Hintergrundrauschen, und das Erinnertwerden an bedrohliche Konsequenzen verliert seinen Effekt. Kann man ‘Angst’ zu ‘Vision für Veränderung’ transformieren? So wäre zum Beispiel die Reaktion zu überlasteten Krankenhäusern mit mittel- und langfristigen Änderungen im Gesundheitswesen zu kombinieren, um nachhaltige Verbesserung für alle zu erzeugen.
- Politische Repräsentanten sollen für die Gesellschaft lernen, zu verstehen, wie in der Krise gehandelt werden muss. Das Klein-Klein der detaillierten Maßnahmendiskussion ersetzte bald die Grundhaltung, als Gesellschaft zu gegenseitigen Zugeständnissen bereit zu sein, da es von den größeren Entwicklungen ablenkt. Vertrauen wird nur erzeugt, wenn die mittel- und langfristigen Ziele, die mit den Maßnahmen erreicht werden sollen, kommuniziert, debattiert, und für gut befunden werden.
- Gleichzeitig jedoch werden Detail-Diskussionen für politische Angriffe auf die Verantwortlichen beziehungsweise deren Entscheidungen verwendet. Als Teile einer Gesellschaft müssen wir uns wieder und wieder bewusst machen, dass umfangreiche Information wichtig ist, gleichzeitig eine Flut an Information einschüchtern und verwirren kann. Die politische Diskussion muss daher auch auf Basis von Werten und langfristigen Zielen erfolgen, sodass das Tagesgeschäft auf deren Basis bewertet werden kann, statt sich in Detailfragen zu verirren.
Kommende Krisen bewältigen
Wir werden in der Zukunft mit weiteren Krisen konfrontiert werden. Der Klimawandel ist nach wie vor im Gange, und die geopolitische Ordnung verändert sich gerade hin zu mehr Multipolarität. Insbesondere Europa hat in seiner jüngsten Vergangenheit Frieden und Sicherheit genossen, die nicht zu allen Zeiten selbstverständlich waren. Die Coronavirus-Krise sollte uns daher als Warnung dienen:
Für die Zukunft müssen wir als Gesellschaft wieder lernen, uns auch langfristig während Krisen zu orientieren, in ihnen zu manövrieren, und dabei gemeinsame Ziele zu verfolgen die uns als Gesellschaft dienen.
Zum Autor: Christian ist Biochemiker, derweil ebenfalls interessiert an Gesellschaftsthemen. Er wünscht sich eine Politik für die Gesellschaft, von der Gesellschaft, hin zu einer balancierten Gesellschaft. Da dies aktiven Austausch zwischen allen politischen Akteuren erfordert, denkt er viel darüber nach, wie politische Kommunikation in verschiedenen Ebenen gestaltet sein sollte.