Ein Tag, der so ruhig und so still war, dass die Berichte sich auf den Satz beschränkten, im Westen sei nichts Neues zu vermelden, war der 20. Januar 2017 sicher nicht. Politiker und Journalisten aller Couleur werteten das Datum als ein historisches – der Tag, an dem Donald Trump als 45. Präsident der Vereinigten Staaten ins Weiße Haus einzog.

Im ZDF-Morgenmagazin hätte man nur zu gerne politisch korrekt über die feierliche Vereidigung der ersten Frau ins Präsidentenamt und über Bündnisstabilität berichtet. Stattdessen blieb nur, protestierende Frauenrechtlerinnen und warnende Stimmen aus der Transatlantikbrücken Society zu Wort kommen zu lassen. Ein Ende der NATO in ihrer gegenwärtigen Form sei „das Ende des Westens“, hieß es da, das dürfe und könne nicht passieren, das sei einfach „undenkbar“.

Eine entlarvende Wortwahl, die all das enthält, was viele Menschen, vor allem in Westeuropa und besonders in Deutschland, immer deutlicher als ganz fürchterliche Filterblase wahrnehmen. Um das angeblich Undenkbare, Ungeheuerliche an dieser Wahrnehmung zu verstehen, muss man natürlich die historische Dimension „des Westens“ berücksichtigen. Dieser hat sich auf Grund der Nachkriegsordnung bis tief nach Mitteleuropa erstreckt. Er hat nicht nur die westlichen Sektoren des geteilten Deutschlands, sondern vermutlich auch noch andere Länder Mittel- und Südeuropas vor sozialistischen Schnüffelgesellschaften sowjetischer Prägung bewahrt. Und als Präsident Kennedy mitten in der Inselstadt West-Berlin „Ich bin ein Berliner“ ausrief, prägte das mit all seinen Konnotaten eine ganze Generation, vielleicht auch zwei oder drei. „Der Westen“, das waren die Guten, mit Kaugummi, Coca Cola und Rock ’n‘ Roll.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre hatte man sich längst schon so an „den Westen“ gewöhnt, dass kaum jemand auf die Idee kam, die militärische Präsenz der Amerikaner in den westlichen deutschen Bundesländern oder gar die Bündnistreue grundsätzlich zu hinterfragen. Schließlich brauchte Deutschland nach seiner Wiedervereinigung ja auch noch so eine Art Sozialhelfer, der das Land behutsam in die neue Souveränität begleiten sollte.

Unterdessen veränderten sich die Vereinigten Staaten jedoch. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatten „dem Westen“ neue geostrategische Räume und Optionen eröffnet. Vor allem die ölreichen Regionen des Nahen Ostens und Teilen Nordafrikas rückten ins Visier klassisch imperialistisch denkender Machtmenschen wie George Bush, der 2001 die Führung im Weißen Haus übernahm. Nach nur wenigen Monaten seiner Amtszeit wurde sein Land aus heiterem Himmel heraus von gekaperten Passagiermaschinen angegriffen. Das Pentagon wurde getroffen, die Türme des World Trade Centers stürzten ein. Tausende unschuldiger Zivilisten starben im Inferno – „Nine Eleven“ wurde schnell zum neuen Generationen-Mem, welches das „ich bin ein Berliner“ endgültig ablöste. „Der Westen“ hatte nun seiner Ansicht nach Grund genug für einen Verteidigungsfall und marschierte in Afghanistan ein. Später dann auch in den Irak. Die „Achse des Bösen“ wurde definiert.

Den Bündnispartner-Staaten in Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, wo immer noch so viele Truppen und Waffen stationiert waren, teilte „der Westen“ ebenfalls eine neue Rolle zu. Deutschland und seine Nachbarn wurden nun nicht mehr wie schutzbedürftige Kinder behandelt, sondern als erwachsene, kräftige junge Männer, die sich in der Treue zum militärischen Bündnis bewähren sollten. In führenden politischen und medialen Kreisen Deutschlands wurde das mit einer Mischung aus vorsichtigem Stolz und ganz leisem Widerspruch hinter vorgehaltener Hand verarbeitet.

Die unverhohlene Aggressivität, mit der unter der Bush-Regierung die „Befreiung“ des vorderen Orients vorangetrieben wurde, hätte allerdings früher oder später zu ernsthaften Reibungsverlusten in Mitteleuropa geführt. Um so erleichterter, ja geradezu begeistert war man deshalb, als ein jugendlich schlanker, weltgewandter, dunkelhäutiger Vertreter des gemäßigten demokratischen Lagers im Jahr 2009 zum neuen amerikanischen Präsidenten wurde. Seine moderne Nonchalance mit Twitter-Account glättete alle zwischenzeitlich entstandenen Stirnfalten. Selbst in linksliberaleren Kreisen wurde es wieder üblich, ohne Hintergedanken die Bündnistreue „zum Westen“ zu betonen.

Das änderte sich auch nicht, als Obama die schmutzigen Angriffskriege durch gezielte Drohnen- und geschickte Stellvertreterkriege ersetzte. Es änderte sich nicht, obwohl er das Gefangenenlager von Guantanamo Bay aufrecht erhielt. Selbst als er den Feindbildfokus neu justierte und Russland wieder ins Visier nahm, war er schließlich immer noch offizieller Friedensnobelpreisträger und die große Hoffnung aller Homosexuellen und Opfer von Hautfarbenrassismus. Kein ernstzunehmender Politiker oder Journalist der „Mitte” wagte in dieser Situation, das Verhältnis „zum Westen“ in Frage zu stellen.

Doch Teile der Bevölkerung taten das. Vor allem, seit der Einfluss von Influencern in den sozialen Netzwerke gegenüber dem Einfluss der klassischen Medien stark gewachsen war, und spätestens seit der Ukraine-Krise. Wer das Verhältnis zu „unserem Bündnispartner“ oder die außenpolitische Integrität von Obama öffentlich kritisierte, wurde schnell mit aller professionellen Beredtsamkeit als linker Spinner oder rechter Idiot abgestempelt. Doch das hatte nicht den gewünschten Effekt, sondern vielmehr lernten so manche Influencer ganz schnell, wie das mit der professionellen Beredtsamkeit funktioniert. Nicht so sehr bei den linken Spinnern, wohl aber bei den rechten Idioten.

Und da haben wir sie nun, die neuen rechten Bewegungen. Jederzeit über Smartphone und Facebook kollektiv erregbar, auf der Suche nach einem neuen Helden, der sie und uns alle in nicht allzuferner Zukunft zurück ins gesegnete Zeitalter des identitären Glaubens führen soll. Figuren wie Frauke Petry oder Marine Le Pen sind noch nicht wirklich das, was sich diese Bewegungen wünschen. Ein kantiger Sprücheklopfer und Pussygrapscher mit Föhnfrisur aus dem fernen Amerika vielleicht? Nein, wahrscheinlich eher auch nicht. Aber er denkt immerhin ebenfalls identitär, und deshalb wird Donald Trump, der wider aller Erwartungen bündnistreuer Atlantikbrückenvertreter zum 45. Präsident der Vereinigten Staaten wurde, in der rechten Szene ausgiebig als einer der Ihren gefeiert.

Warten wir ab, was als nächstes geschieht. „Das Ende des Westens“ wie wir ihn aus den Zeiten von „ich bin ein Berliner“ kennen, ist jedenfalls schon seit längerer Zeit Fakt. Zeit auch fürs „Establishment“, sich das endlich einzugestehen. Sonst macht man sich am Ende noch lächerlich. Viel wichtiger als die Bündnistreue zu einer mehrere tausend Kilometer entfernten Großmacht und ihren geostrategischen Interessen sind in nächster Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach die Aufgaben, die mitten in Europa vor uns liegen. Der Identitarismus will uns wieder auf Herkunft, Gene und Volkszugehörigkeit festnageln. Ob und wie Trump das in den entfernten Staaten von Amerika gelingt, sollten wir aufmerksam beobachten. Aber – und da stimme ich, wenn auch aus anderen Gründen, mit den Rechten überein – wir sollten uns um unsere eigenen Aufgaben kümmern. Und wieder mehr von der Geschichte lernen.